Der Türmer von Nördlingen
Horst Lenner ist der hauptamtliche Türmer auf dem Nördlinger "Daniel" und steht über den Dingen.
Horst Lenner ist der hauptamtliche Türmer auf dem Nördlinger "Daniel" und steht über den Dingen.
Der „Daniel“ ist ein Wahrzeichen und eines der beliebtesten Reiseziele in Bayern. Auf dem Turm über Nördlingen wacht Horst Lenner. Er hat damit seinen Kindheitstraum verwirklicht und führt so eine jahrhundertealte Tradition weiter.
Hoch und runter. 1.400 Stufen am Tag. Mindestens. Während in Otto Normaltreppensteigern bereits der Wunsch nach einer Bank und einem Glas Wasser keimt, zieht Horst Lenner das Tempo nur noch mehr an – und plaudert ebenso schnell und ohne jeglichen Mangel an Puste über die Liebe zu seiner Arbeit, zu seinem Turm, dem „Daniel“. Ganz oben angekommen, tritt er hinaus auf den oberen Kranz, beide Hände fest an der Brüstung, als wolle er sie beschützen. Die Feder, die seinen Hut ziert, bewegt sich leicht und fast schon heroisch im Wind – es ist sein Turm. Kein Zweifel.
„Ich war Frontman in unterschiedlichen Bands, ich war Korrektor und Lektor, ich war in München, ich war in Berlin, ich war in San Francisco, doch von all den Jobs, die ich bisher hatte, von allen Orten, an denen ich je gewesen bin, ist das hier der schönste.“
„Hottle“, wie er in Nördlingen und sogar vom Oberbürgermeister liebevoll genannt wird, ist mit seinen 70 Jahren, die man ihm nicht im Entferntesten ansieht, einer der letzten seiner Zunft. Seit 2010 ist er einer der zwei Haupttürmer von Nördlingen, ein Berufsbild, das einer mittelalterlichen Tradition folgt. Damals bestand die Hauptaufgabe darin, vom höchsten Turm die Stadtbewohner vor Gefahren zu warnen, heute fungiert Horst Lenner hauptsächlich als Geschichtenerzähler für die zahlreichen Touristen und sogar ganze Schulklassen, die – der Aussicht willen – die Herausforderung der Stufen auf sich nehmen.
Schon als Kind wollte Horst Türmer werden...
Horst Lenner steht für seinen Beruf wie kaum ein anderer. Erinnert er sich an seine Kindheit zurück, werden seine Augen leicht wässrig. Feuerwehrmann, Polizist, Geschäftsmann? Nein. Geboren und aufgewachsen in Nördlingen als Sohn einer Hausfrau und eines Bundesbahnbeamten, stand der Berufswunsch des Türmers für ihn schon immer fest. „Wir sind als Kinder ganz oft im Turm gewesen zum Spielen“, erzählt er, „es war immer eine große Ehre für uns, wenn wir im Turm unseren Schabernack getrieben haben und wir dann für den Türmer ein ‚Leberkäsweckle‘ holen durften.“ Für ihn war es stets faszinierend, abends mit seinen Eltern durch die Stadt zu spazieren und um 22 Uhr den traditionellen Ruf des Türmers zu hören – „So G’sell so“. Umso größer der Stolz, dass er heute derjenige ist, der dieser Tradition nachgeht. Jede Nacht. Mindestens 20 Mal. In alle vier Himmelsrichtungen. Der Ruf steht sogar auf dem Ofen in der Türmerstube eingraviert – „damit man ihn nicht vergisst, hat man mal ein bisschen zu viel Wein getrunken“, witzelt Lenner.
Werte für ein ganzes Leben: Die gute Laune verdirbt ihm keiner so schnell. „Meine Mutter war eine herzensgute Frau, die mir sehr viel fürs Leben mitgegeben hat. Zuverlässigkeit, Liebe, Warmherzigkeit. Und auch mein Vater war immer wie ein Kumpel für mich und ein sehr ehrenhafter und willensstarker Mann. Diese Werte habe ich in meinem ganzen Leben weitergetragen und ich war immer schon sehr harmoniebedürftig“, erinnert er sich.
Was ist es eigentlich, was die Arbeit hier so besonders macht? Das Gefühl, sagt Lenner. „Es ist großartig, hier auf dem Turm über den Dingen zu sein. Der Ausdruck ‚Türmen‘ stammt aus dem Mittelalter für ‚Abhauen‘, ‚in Sicherheit bringen‘. Oben war man einfach sicher.“
Ein Tag auf dem Turm geht zu Ende: Das Glöckchen, das per Seilzug mit der Eingangstür zur Kasse verbunden ist, im Turm klingelt. Neue Besucher sind gekommen. Die meisten von ihnen kaufen als Andenken eine der vielen verschiedenen Postkarten, die sie hier auch abstempeln lassen können. Der neuester Besucher ist gerade mal halb so groß wie der Türmer und vermutlich gerade mal ein Siebtel so alt. Hat man eine so berühmte Mitarbeiterin wie Wendelstein, dann interessieren sich plötzlich auch die Kleinsten für Tradition und Geschichte. Die Postkarte mit der Katze hat es dem Jungen besonders angetan. Lenner schenkt sie ihm – wieder jemanden glücklich gemacht.
Es ist spät geworden, die Kirchenglocken schlagen nicht mehr. Um 21:58 Uhr steigt der Türmer von Nördlingen die 18 Stufen auf den oberen Kranz hoch. Er blickt auf die Lichter der Stadt, schließt die Augen, neben sich Wendelstein, die sich sanft an seine Beine schmiegt, und ruft mit klarer, voller Stimme, gegen die kein Wind und nicht einmal die Nördlinger Stadtmauer ankommt: „So G’sell so“ – ein Ruf, den Hottle selbst nach einem Gläschen Wein niemals vergessen würde.